de The Shard (Alpha) (04/2019)

Textadventure mit Grafik ★★★★☆☆☆☆☆☆   [?]
von Sven Herrmann
Publisher:keine

Gegenstände verschwinden, Türen öffnen sich plötzlich, Stimmen dringen durch leere Räume – bei Professor Olbrich gehen seltsame Dinge vor, denen er auf den Grund gehen muss. Ein Parserspiel mit üppiger Grafik und alternativer Maussteuerung.

HINWEIS: Der Autor bat im Juli 2021 darum, das Spiel aus der Liste zu nehmen, da es künftig als Point-&-Click-Adventure in Erscheinung tritt. Daher wurden Links, Publisher-Zuordnung und Bilder entfernt, dieser Eintrag hat lediglich archivarischen Charakter.

Review von Martin Oehm 31.05.2020
Review von thomas.testor 19.12.2019

Plattform:Quest
Downloadlink:

» Spieler-Charaktere » Wissenschaftler, Arzt, Lehrer

Review von Martin Oehm 31.05.2020     ausblenden

Dieser Beitrag enthält Spoiler, die den Spielspaß verderben. Wer das Spiel noch nicht gespielt hat, sollte nicht weiterlesen.

Das Interface scheint nicht sehr stabil zu sein. Bei mir funktioniert das Weiterspielen eines abgespeicherten Spielstands nicht, weil wohl die Struktur des Installationsverzeichnisses nicht stimmt. Außerdem gibt es oft Verwirrung, wenn man Hotspots und Texteingabe abwechselnd verwendet.

Weil es mich aber interessiert, wie man im Jahre 2019 Textadventures schreibt, mache ich mir selbst einmal die Freude, hier ein wenig zu analysieren. Spoiler ahoi!

~ ~ ~

Auf den ersten Blick, der natürlich den detailreich gerenderten Grafiken gilt, scheint The Shard ein ehrgeiziges Projekt zu sein. Unterstrichen wird der Eindruck durch die recht professionelle Aufmachung der Webseite mit Promo-Video und Pressebreieich.

Auf den zweiten Blick ist das Spiel aber recht lieblos gestaltet. Der Autor hat dem Textadventure selbst nicht die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wie den Grafiken. Das sieht man in der Präsentation der Texte, in der Umsetzung des Eingabe-Interfaces und in der Struktur der Geschichte.

Die Raumbeschreibung besteht nur aus dem Raumnamen und einer ungeordneten Liste aller Gegenstände im Raum sowie der Ausgänge. Bei aller Liebe, aber das ist nichts anderes als Scott Adams. Bei den Adventures von Scott Adams wurden aber wenigstens nur interessante Gegenstände angezeigt. Das Büro des Protagonisten in The Shard hingegen hat alles, was ein Büro so hat: Schreibtisch, Drehstuhl, Computer mit Monitor, Telefon, Fotos von Familienangehörigen, eine Lampe, eine Kaffeetasse. All das wird in einem langen Listensatz ("Zu sehen ist ratter, ratter, ratter, ...") angezeigt. Mittendrin gibt es einen Teleporter (!). Darin eine Kristalscherbe (!!). Das einzig Interessante wurde in einem Wust von Alltäglichem begraben.

Dass die Ausgänge schmucklos aufgelistet werden, ist ebenso ungeschickt. Als ich nach einigen Zwischenfällen den Empfangsbereich meiner Uni erreiche, lese ich: "Mögliche Ausgänge: nach Süden, nach Südosten, nach Norden, nach Osten oder nach Südwesten". Gehe ich nach Süden, heißt es: "Mein Ziel lautet immernoch und jetzt erst Recht NACH HAUSE!" Schön, aber woher soll ich wissen, welcher der fünf Ausgänge nach Hause beziehungsweise zum Ausgang führt? Eine richtige Raumbeschreibung - eine die von einem richtigen Autor geschrieben wurde - würde das Problem sofort lösen.

Jedes Objekt und jeder Ausgang hat einen Hotspot und das leidenschaftslose Auflisten hat wenigstens den Vorteil, dass man sofort alles anklicken kann. (Die Bilder sind nur Hintergrund und nicht interaktiv.) Ein Klick auf einen Ausgang, der hier immer mit einer Richtung bezeichnet wird, bewegt den Spieler von Ort zu Ort. Ein Klick auf andere Objekte zeigt mir ein Menü mit möglichen Aktionen. Für den Schreibtisch sind das: Rede mit, Schiebe, Schließe, Öffne, Benutze, Lese, Untersuche, Lege hin, Nimm. Die gleichen Optionen erhalte ich für den Monitor, für den Zeitungsartikel, für das wenig ergiebige Panoramafenster und für *jedes andere* Objekt im Spiel.

Das ist die Steuerung von Maniac Mansion, das der Autor auf seiner Seite als Quelle seiner Leidenschaft für Adventures nennt. Maniac Mansion hatte etwa zwölf oder fünfzehn fixe Verben und man hat seine Aktion zusammengesetzt, indem man zuerst auf das Verb, dann das Objekt klickte. Das war Mitte der Achtziger, von Kontextmenüs hatte man außerhalb von Palo Alto noch nichts gehört. Aber in Quest, dem Entwicklungssystem, das für The Shard verwendet wurde, kann man zu jedem Objekt eine maßgeschneiderte Liste von Aktionen anbieten. Dass ich für jeden Gegenstand in einem Spiel, in dem es keine anderen Personen gibt, mit denen man direkt interagieren kann, "Rede mit" angeboten bekomme, ist unentschuldbar.

(Natürlich kann der Spieler über das Textinterface "Rede mit Schreibtisch" angeben und sollte eine entsprechende Meldung bekommen. Man muss sich halt überlegen, wie man die beiden Interfaces - Texteingabe und Hotspots - verwendet. Kann man das Spiel nur mit einem der beiden Eingabemethode durchspielen? Oder sind die Hotspots eine Ergänzung der Texteingebe, mit der man vielleicht 90% der Befehle abdecken kann? Und wenn es Situationen gibt, die man nur mit dem Textinterface lösen kann, sollte dem Spieler das auch klar sein.)

~ ~ ~

Okay, zurück zu interessanteren Themen. Das heißt: zurück zum oben erwähnten Teleporter. Darin befindet sich eine rötliche Kristallscherbe und ein Zeitungsartikel an der Wand berichtet vom Fund von fremdartiger roter Scherben in Sybieren. (Ich denke, dass "Sybirien" eine Reverenz an Syberia ist. Es kann aber auch ein Tippfehler sein, der sich in Klopper wie "Putzkollone" und "apprupt" einreiht - das Spiel hat leider viele Rechtschreib- und Ausdrucksfehler.)

Das Spiel heißt ja "The Shard", also "Die Scherbe", da wird die Scherbe im Teleporte vermutlich eine zentrale Rolle spielen. Ich kann sie aber nicht untersuchen, weil es sie als Objekt nicht gibt. Zum "Benutzen" des Teleporters fehlen Energiezellen. Mehr geben die einzigen exotischen Gegenstände im Raum nicht her.

Das Spiel will stattdessen, dass ich erst einmal einen Kaffee mache. Und zwar in allen blutigen Datails: Tasse nehmen, Kaffee trinken, feststellen, dass er alt ist, in die Küche gehen, Wasser in die Tasse füllen, Wasser in die Kaffeemaschine schütten, feststellen, dass keine Kaffeebohnen mehr im Mahlwerk sind, neue suchen und finden, Bohnen in die Maschine tun, Maschine einschalten, voilà, frischer Kaffee.

Na gut, das war jetzt eher mäßig spannend, es gibt aber einen Grund für die kleinteilige Umsetzung: Das Ganze ist als Tutorial angelegt. Das Tutorial wird von einem strengen Lehrer vorgetragen: "Gib dazu dies ein. Gib dazu jedes ein. Klicke dazu auf diesen Link." Wenn man einen Schritt überspringt, etwa, eine Aludose aus dem Küchenschrank öffnet, bevor man sie untersucht hat, gibt es eine Rüge im Oberschwesterton: "Haben wir nicht erst was vergessen?" (Aber man ist dankbar, dass man nach solch einem Fauxpas nicht zur Strafe direkt wieder von vorn beginnen muss.)

Ich verstehe den Wunsch, dem Spieler unter die Arme zu greifen. Textadventures als Genre sind aus der Zeit gefallen, niemand liest mehr eine "How to Play"-Seite und viele Spiele führen neue Spieler erst durch ein paar Probe-Level, also ist das Tutorial Mittel der Wahl. Dass man aber so strikt geführt wird, finde ich nicht gut. (Außerdem finde ich, dass man das Tutorial überspringen oder, wenn das Kaffeemachen als Einstiegsaufgabe bleiben soll, zumindest ausschalten können sollte. Das würde dem Spieler auch erlauben, den kalten Kaffee in die Spüle zu schütten anstatt ihn zu trinken.)

Und das Tutorial steht sich manchmal selbst im Weg. Um die Tasse mit Wasser zu füllen, schlägt das Tutorial "benutze Tasse mit Spüle" vor. (Man kann natürlich auch etwas anderes, das die gleiche Aktion auslöst, eingeben.) In Textadventures ist "benutze" verpönt, weil es meistens ein genaueres Verb gibt. In Point-and-Click-Spielen ist "Benutze ... mit" das Allzweck-Verb zum Kombinieren zweier Objekte, das ja auch im Kontextmenü mit den Optionen auftaucht. "Benutze" ist wohl der hybriden Eingabe geschuldet.

Also:

> benutze Tasse mit Spüle
Herr Olbrich füllt die Tasse mit Wasser.

TUTORIAL: Die Tasse wurde mit Wasser befüllt. Das brauchen wir für die Kaffeemaschine. [...]

Hier gibt es drei Probleme: (1) Wasserhahn und Spülbecken sind zwei eigenständige Objekte (und werden auch brav einzeln in der Raumbeschreibung aufgeführt). Müsste man nicht "benutze Tasse mit Wasserhahn" sagen oder zumindest sagen können, um die Tasse zu füllen? (2) Keine der beiden Formen, die das Spiel selbst verwendet - fülle/befülle Tasse mit Wasser - wird vom Spiel verstanden. (Vermutlich, weil das Wasser noch nicht sichtbar ist - "u Wasser" führt dazu, dass man den Wasserhahn untersucht.) (3) Erst, nachdem ich folgsam das Wasser in die Tasse gefüllt habe, wird mir gesagt, was ich damit tun soll. Aber eigentlich weiß ich ja zuerst, was ich machen möchte und handele dementsprechend. Diese Verkehrung von Ziel und Aktion tritt später im Spiel häufiger auf.

Ein weiteres Problem sind ungenaue Fehlermeldungen. Wenn etwas nicht verstanden wird, kommt ein zufällig aus sieben Meldungen ausgewählter Satz, etwa "Ich verstehe nicht was du meinst" oder "Finde heraus, ob die Rechtschreibung korrekt ist." Der erste Satz ist in Ordnung. Der zweite Satz impliziert, dass etwas falsch geschrieben wurde, aber der Fehler kann etwas anderes sein, etwa ein nicht erkanntes Verbmuster. Ich wünschte mir, das Spiel würde einfach sagen "Ich kenne das Wort 'Tase' nicht", was aber in The Shard wohl nicht möglich ist, weil unbekannte Wörter einfach herausgefiltert werden.

Aber braucht man das Tutorial überhaupt? Im Idealfall würde es reichen, die beiden Eingabemöglichkeiten gut zu nutzen. Textadventure-Autoren kennen die gängigen Tricks: Was das Spiel ausgibt, muss auch als Eingabe funktionieren. Wenn man dem Spieler ein Verb mitteilen möchte, kann man das in Beschreibungen machen: "Mit diesen Mullbinden kann man Wunden verbinden" heißt, dass "verbinde Arm mit Mullbinde" verstanden wird. Wenn das zu plump ist und es ein Rätsel zerstören würde, baut man am Anfang des Spiels eine ähnliche Situation ein, so dass der Spieler das Verb schon einmal benutzt hat. (Das in allen Fällen gut hinzukriegen, ist nicht ganz leicht. Wieviele Möglichkeiten gibt es, Wasser aus einer Tasse in die Kaffeemaschine zu füllen?)

Die zweite Eingabemethode, das Kontextmenü, unterstützt den Textparser, indem eine Auswahl als Texteingabe erscheint und dann ausgeführt wird. So kann der Spieler erkunden, was geht und was nicht. Dazu müssen die Menüs aber auf jedes Objekt angepasst werden. Da man hier alle Verben, die der Textparser versteht, verwenden kann, kommt man ganz ohne "Benutze" aus. Objekte, bei denen nur "Untersuche" als Auswahl übrigbleibt, brauchen oft keinen Hotspot mehr.

Die Möglichkeiten, das umzusetzen, sind da, sie werden nur nicht genutzt.

~ ~ ~

Gut, das Tutorial ist abgeschlossen und Herr Olbrich, der Protagonist, hat seinen Kaffee getrunken. Was nun?

Gute Frage. Ich habe lange gebraucht, um das Spiel nach dem Tutorial voranzubringen. Das Spiel lässt mich nicht der Uni herumlaufen mit der Begründung, dass ich keine Motivation habe, in bestimmte Bereiche zu gehen. In Ordnung, aber was ist denn überhaupt meine Motivation in diesem Spiel?

Zu Beginn wird mir in einer Cutscene geschildert, wie Herr Olbrich, der im Büro eingeschlafen war, einen Anruf von seinem zwielichtigen Arbeitgeber, einem Herrn Reeder, erhält, der versucht, Druck aufzubauen. Er will "Ergebnisse sehen". Worum es da genau geht, wird nicht klar. Die fehlenden Energiezellen werden als Grund, warum es nicht weiter geht, kurz erwähnt und in einem Nebensatz erfährt man, dass Herrn Olbrich der rechte Arm fehlt, weil er einen "Unfall" hatte.

All das ist eigentlich interessant, aber nichts davon wird weiter verfolgt. Dass der Protagonist nur einen Arm hat, ist ja eine starke Behinderung, aber man merkt nichts davon, außer an den Stellen, an denen es dem Autor für ein Rätsel gelegen kommt. In der ersten Szene muss man zum Beispiel eine Aludose mit Schraubverschluss öffnen. Wie macht man das mit nur einer Hand? Wahrscheinlich hat Herr Olbrich dazu eine Methode entwickelt, aber das sollte dann auch kurz erwähnt werden. Stattdessen: "Herr Olbrich öffnet sie." Auch solche allgemeinen Texte sollten auf den einarmigen Protagonisten zugeschnitten werden.

Nach dem Kaffeekochen geht es mit "benutze PC" weiter. Das habe ich leider nicht selbst herausgefunden, sondern der Musterlösung entnommen. (Es gibt keine Musterlösung zu The Shard, aber die XML-Datei von Quest ist ein guter Ersatz. Und wenn man einmal in die Lösung geschaut hat, schaut man immer wieder hinein. Goldene Regel, quasi.)

Der PC war für mich aber bislang eine Sackgasse. Er war eingeschaltet, ausschalten konnte ich ihn nicht, die Beschreibung von PC und Monitoren ist eher technisch und die Antwort auf "lies Monitore" ist "Dort steht nichts." Ihn aktiv zu benutzen, darauf bin ich nicht gekommen. Beim Benutzen des PCs erhält man zwei e-Mails. Warum nicht einfach sagen "Als Du in Dein Büro zurückkehrst, bemerkst Du zwei neue e-Mails.", die man dann lesen kann?

Eines der e-Mails hat mit den Energiezellen zu tun, die an meine Privatadresse geschickt wurden. Endlich habe ich eine Motivation meine Arbeitsbereich zu verlassen und das Spiel lässt mich weitere Bereiche der Uni erkunden. Vielleicht geschehen ja jetzt die merkwürdigen Dinge, die in der Pressemitteilung angekündigt wurden.

Ja, die merkwürdigen Dinge passieren: Der Aufzug bleibt stecken. Herr Obrich findet den Schlüssel für den Haupteingang der Uni nicht. Als der die Notfallnummer des Hausmeisters anruft, geht eine Feuerschutztür auf mysteriöse Weise auf und wieder zu, so dass Herr Olbrich vor Schreck den Hörer seines Telefons hinter den Schreibtisch fallen lässt. Wie aufregend.

Diese "merkwürdigen Dinge" passieren natürlich, weil The Shard laut Pressemitteilung "im Horrorgenre ansässig" ist. Was sie mit der Scherbe oder den dubiosen Auftraggebern von Herrn Olbrich oder mit irgendetwas zu tun haben, weiß ich nicht. Spannung kommt jedenfalls nicht auf. Es ist eher so, dass ich mich langsam von meinem Protagonisten distanziere, der beim kleinsten Missgeschick entweder cholerische Wutausbrüche bekommt oder sich selbst bemitleidet.

Wie es nun weitergeht, habe ich mir wieder aus dem Quelltext zusammengesucht. Es ist ein weiteres Beispiel der rückwärtsgewandten Logik, die sich schon im Tutorial angedeutet hat. Herr Olbrich verliert die Nerven und will nur noch nach Hause, ist aber in der Uni eingeschlossen, weil er seinen Schlüssel verlegt hat. (Vielleicht ist dieser Schlüssel auch gestohlen worden, wer weiß? Herr Olbrich ist ein typisches Beispiel für jemanden, der ständig seinen Schlüssel verliert und dann das Schicksal anruft: Warum passiert so etwas immer mir?)

Herr Olbrich geht also zur Rezeption, klettert über den Tresen und gelangt in die Portiersloge, wo die Aufzeichnungen der Überwachungskameras gelagert werden. Aus einem Aquarium fischt er den Schlüssel zum Schrank mit den Aufzeichnungen. Auf dem Video vom Vortag sieht er, wie der Hausmeister mit einem Schlüsselbund am Gürtel auf die Toilette geht, aber ohne Schlüsselbund wieder herauskommt. Der Schlüssel zur Tür muss also auf der Toilette liegen, weil der Hausmeister ihn dort verloren hat!

So geht die Logik von The Shard: The Shard ist ein Adventure und ein Adventure hat Rätsel. Über den Tresen zu klettern und den Schlüssel aus dem Aquarium zu fischen sind super Rätsel. Als Belohnung gibt es Zugang zu den Videos. Wenn ich mir unter etwa 80 kürzlich aufgenommenen Videos das vom Vortag aussuche, mache ich einen Zufallsfund. Wie schon im gesamten Spiel habe ich überhaupt keine Motivation, auch nur irgendeins dieser Dinge zu tun, außer vielleicht den Schlüssel aus dem Aquarium zu fischen. (Adventure-Spieler sind halt Elstern, die etwas Glänzendes nicht einfach liegen lassen können.)

Hat das schon einmal jemand aus dem Spiel heraus gelöst? Ich bezweifle das. Das Spiel ist ja als öffentliche Alpha-Release angelegt und hat vermutlich noch keinen Tester gesehen. (Leider ist für mich der Weg zur Toilette immer noch versperrt. Auch die korrekte Telefonnummer des Hausmeisters habe ich im Quelltext nachgeschaut. Ich weiß nicht, wo man sie im Spiel finden kann.)

The Shard ist ein Abenteuer in einer generischen Universität. Die Situationen, in denen sich Herr Olbrich befindet, sind vielleicht unglücklich, aber alltäglich. Alles, was interessant sein könnte - der angedeutete Kontakt zur Tochter, der offenbar durch die Ex-Frau unterbunden wird, der zwielichtige Auftraggeber, von dem Herr Olbrich abhängig ist, die außerirdische Scherbe im Teleporter - spielt im Spiel keine Rolle.

Die Grafiken sind schön gerendert, aber wegen der alltäglichen Motive sehr langweilig. Das erste Bild ist Herrn Olbrichs Büro, auf dem ein Monitor und eine Tastatur neben einer Kaffeetasse auf einem Schreibtisch zu sehen sind. Das unerscheidet sich nicht wesentlich von dem Schreibtisch, an dem ich (der Schreiber des Posts, nicht der Spieler) gerade sitze. Die Bilder sind noch nicht einmal besonders stimmungsvoll.

Wahrscheinlich versuche ich aber nur, etwas in das Spiel hineinzulesen, was gar nicht da ist. In der Pressemitteilung zum Spiel heißt es: "Gespielt wird der Wissenschaftler und Dozent Dr. Olbrich. Schauplatz ist die fiktive Universität Heideshausen. Eines Abends geschehen merkwürdige Dinge: Gegenstände verschwinden. Türen öffnen und schließen sich wie von Geisterhand. Schatten bewegen sich den Wänden entlang." Es ist genau das drin, was draufsteht. Aber will ich so ein Spiel spielen?

~ ~ ~

The Shard ist in seiner jetzigen Form kein gutes Spiel. Meiner Meinung nach hat der Autor nicht verstanden, wie ein Textadventure funktioniert. Es reicht nicht, sich ein paar Räume auszudenken und ein paar Rätsel aneinanderzureihen. Selbst wenn ein Spiel keine dolle Story hat muss man ein Hindernis erst sehen, dann die Lösung suchen. Natürlich kann es immer Überraschungen geben, aber zu jeder Zeit muss der Spieler mindestens ein klares Ziel haben. Insofern war das Tutorial mit seinem Korsett der beste Teil des Spiels: Der Spieler weiß genau, was er machen muss.

Es reicht auch nicht, dass der Autor das Ziel des Spielers kennt. Der Spieler muss es auch mitgeteilt bekommen. Das ist das Hauptproblem bei The Shard. Es gibt Objekte und Ausgänge, von denen der Autor eine genaue Vorstellung hat. Dem Spieler werden sie aber lieblos hingeklatscht. Das Spiel macht eher den Eindruck, dass das Spiel nur ein dünnes Behältnis für die Grafiken ist. Die Form des Textadventures wurde gewählt, weil sie so schön Lo-Tech ist und sich mit Quest leicht umsetzen lässt.

Was mich dabei ärgert, ist wie das Spiel beworben wird. Es wurde viel Aufwand betrieben, um die "Spieleschmiede" Scriptgames professionell aussehen zu lassen. (Es ist nicht ganz klar, aber ich glaube eher nicht, dass The Shard kommerziell vertrieben werden soll. Eigentlich ist mir vieles nicht klar. Ist die Alpha-Version 0.10.0, die ich gespielt habe, nur ein erster Teil? Das würde erklären, weshalb die Scherbe im Teleporter noch keine Rolle spielt.)

Der Autor hat eine Pressemitteilung herausgegeben, in der hervorgehoben wird, dass der Parser Umgangsprache versteht: "Mach die Tür auf", "Tu die Tür aufmachen" oder "Versuche, die Tür zu öffnen". Der Parser ignoriert aber einfach Wörter, die er nicht versteht. Das hat Das Stundenglas schon vor dreißig Jahren so gemacht. (Ich weiß auch nicht, worüber ich mich mehr wundern soll: Dass der Autor dazu eine Pressemitteilung herausgegeben hat oder dass diese Mitteilung von einem Organ namens "IT Management Today" dann tatsächlich veröffentlicht wurde.)

Im Großen und Ganzen scheint mir die Darstellung und Entwicklung von "Features" getrieben zu sein. Das Video schreit: Erlebe Textadventure-Feeling mit moderner HD-Grafik! Spiele in natürlicher Sprache! Löse vielfältige Rätsel! Die Leser von IT-Management Today lieben Features. Man kann sie so schön auflisten, quantifizeren und in Tabellen eintragen.

Das Interface wird als Feature gepriesen, obwohl es nicht gut funktioniert. Die Rätsel werden als Feature gepriesen, obwohl sie eigentlich nur "da" sind und nicht in die Geschichte integriert sind. Die HD-Grafiken werden als Feature gepriesen, obwohl sie nur Beiwerk sind.

"Show, don't tell" wird Schreibern oft geraten. Das gilt für die Texte im Adventure, aber auch für die Außendarstellung des Adventures. Ich will nicht lesen, dass der Autor ein "leidenschaftlicher Gamer" ist, dass das Spiel "innovativ" ist und dass der "Textparser bei Umgangssprache überzeugt". Ich will das im Spiel erfahren. Wo zeigt sich denn die Leidenschaft des Autors? Wen hat der Parser denn überzeugt? Wieviele Leute haben das Spiel überhaupt über das Tutorium hinaus gespielt?

Spieldesign ist Design. Man muss sich Gedanken machen, was man dem Spieler bieten will und wie man es erreicht. Das ist bei einem AAA-Spiel nicht anders als bei einem Textadventure aus einer Ein-Mann-Spieleschmiede in Dülmen. Gutes Design ist nicht leicht, es öffnet aber auch viele Möglichkeiten. Man muss aber für seine Spieler designen, nicht für die Feature-Liste in der Pressemitteilung.

Apropos Feature: Ein Feature ist, dass es das Spiel auf Englisch und Deutsch gibt. Die deutsche Version ist sprachlich schon nicht sehr sauber. Die englische Version ist jedoch eine wortwörtliche Übersetzung der deutschen Texte mit Lübke-Stilblüten wie "A few minutes move into the country". Hier sollte sich der Autor mit einem Übersetzer zusammentun oder sich entschließen, das Spiel nur auf Deutsch herauszubringen. (Ich rate dringend zur einsprachigen Variante.)

Das nächste Feature ist schon in der Pipeline: "In naher Zukunft kann der Spieler per Spracheingabe die Befehle an den Protagonisten übermitteln." Ja, nette Idee, aber bitte, bitte nicht den fünften Schritt vor dem ersten machen. Man kann gewiss eine Sprach-Lib einbinden, aber solange das ganze Adventure de facto nicht spielbar ist, braucht man darüber nicht nachzudenken.

Zuletzt geändert am 31.05.2020 18:24 Uhr.