en The Blind House (10/2010)

Textadventure ★★★★★★★☆☆☆   [?]
von Amanda Allen
Publisher:keine

Das Spiel lehrt, was alles passieren kann, wenn zwei Frauen in einem zwiespältigen Verhältnis zueinander stehen: Die Spielerin Helena übernachtet bei Marissa, der einzigen offenbar noch vertrauenswürdigen Person. Oder? Helena wirkt paranoid, möglicherweise klebt Blut an ihren Händen. Die psychologisch gespannte Atmosphäre wird durch die Ich-Form noch verstärkt. Man erlebt albtraumartige und blutdurchtränkte Szenen und hat am Ende das Gefühl, nicht verstanden zu haben, was »wirklich« passiert ist. Der Beitrag wurde unter dem Pseudonym »Maude Overton« veröffentlicht und war vom gleichnamigen Titel der britischen Progressive-Rock-Band  Porcupine Tree inspiriert. Vierter Platz auf der 16. IF-Comp 2010 und zweiter Platz bei den Miss Congeniality 2010 Awards (zusammen mit One Eye Open). Das Spiel erschien unter dem Pseudonym »Maude Overton«.

Review von proc 07.10.2010

Plattform:Glulx
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Spoiler:
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» Genres » Surreal » Albtraum
» Schauplätze » Wohnhaus
» Spieler-Charaktere » Weibliche Hauptdarstellerin
» Themen » Homosexualität & Transgender » Lesbisch
» Internationale Wettbewerbe & Projekte » Interactive Fiction Competition » 16. IF-Comp 2010
» Internationale Wettbewerbe & Projekte » Interactive Fiction Competition » Miss Congeniality Awards » Miss Congeniality 2010

Review von proc 07.10.2010     ausblenden

Dieser Beitrag enthält Spoiler, die den Spielspaß verderben. Wer das Spiel noch nicht gespielt hat, sollte nicht weiterlesen.

The Blind House handelt von zwei Freundinnen oder vielmehr der Spielerin und ihrer einzigen für vertrauenswürdig gehaltenen Freundin, in deren Wohnung sie übernachtet. Da es eingangs zum Aufruf des Hilfemenüs beim ersten Spielen auffordert, erfährt man, dass Maude Overton das Pseudonym einer jungen Frau ist und das Spiel vom gleichnamigen Song der britischen Band Porcupine Tree aus dem Album »The Incident« inspiriert war. Pseudonym und Progressive-Rock-Lyrics, das kann ja heiter werden! Der Song kreist um das Gefängnis der Elternwelt, die ihre Kinder vor der korrupten Welt da draußen bewahrt, damit nichts Gutes anrichtet und die freie Liebe verhindert. Tatsächlich ist blind-house ein Spitzname für Village lock-ups, jene englischen und walisischen Einpersonen-Kerkerrundbauten aus Stein, in die Landstreicher und Besoffene in vergangenen Jahrhunderten meist für einen Tag gesteckt wurden.

Einen Tag lang spielt auch die Geschichte, einen Abend und den Folgetag um genau zu sein. Und es muss zuvor etwas Schlimmes passiert sein, sonst würde die Spielerin Helena nicht bei Marissa übernachten, der sie (wie später angedeutet wird) erst kürzlich über den Weg gelaufen ist. Dort beginnt eine Geschichte des Misstrauens, der Depressionen, Paranoia und Albträume, die sich in blutverschmierten Tüchern und Schnittwunden an den Armen materialisieren, die dann, erst einmal abgewaschen, nie dagewesen zu sein scheinen. Während Marissa am Folgetag zur Arbeit geht, wühlt die Spielerin Antworten suchend in deren Wäsche, findet Geheimcodes (oder profane Kleideretiketten?), wirft ihren Rechner an und spechtet in die privaten Mails. Marissas Chefin Estelle taucht darin auf, die dann im nächsten Atemzug physisch im Wohnzimmer sitzt und deutlich macht, dass Marissa ihr gehöre. Die Spielerin bewegt sich auf dieser psychologischen Spurensuche einer ambivalenten Beziehung bis zum Schluss im Diffusionsbereich von Wahnsinn und Realität. Es gibt mehrere Enden, das im Walkthrough vorgeschlagene könnte man als lesbisches Happy-End bezeichnen, gäbe es da ein Ende und könnte man eine Chromatografie der Halluzinationen und Tatsächlichkeiten erstellen.

Die Ich-Form verstärkt noch die bedrückende Atmosphäre, die ohnehin schon durch das viele Blut entsteht. Oder war es Marissas Malfarbe? Die Spurensuche zerläuft an diesem Erkenntnispunkt in einer Dokumentation über Henri Matisse, der dann auch plötzlich in Marissas Schlafzimmer zu hängen scheint. Wie ein Rhizom verästelt sich der Weg durch die Geschichte, was soeben bedeutungslos war wie ein Spiegel im Schlafzimmer oder das darüber geworfene Tuch, wird im nächsten Akt mit nicht selten blutgetränkter Bedeutung geladen. Die Introvertierung der Spielerfigur insgesamt wird durch die vielen Hinweise simuliert, die nur über das Nachdenken erscheinen können: Ohne THINK ABOUT-Anweisung könnten die meisten Rätsel nicht gelöst werden. Selbst über einen an der Wand hängenden Kalender lässt sich nachdenken, je nach Akt anders. Die Gefängnissituation des Settings bekommt dadurch eine vierte Dimension: Die ganze Geschichte spielt räumlich vollständig in den paar Zimmern von Marissas Wohnung, die auch ebenso gut ein einzelnes sein könnten, und ist in acht zeitliche Abschnitte untergliedert, in die man erst durch die Lösung der Rätsel gelangt. Die Rätsel ändern den psychologischen Zustand der Spielerfigur, nicht die Spielewelt.

The Blind House ist eine insgesamt gut implementierte Geschichte freilich mit einigen Schwächen, die auch deren Komplexität geschuldet sind. Schlussendlich fühlt es sich unbefriedigend an, nie zu wissen, worum es in dieser Geschichte geht. Hat Helena aus Eifersucht eine Frau umgebracht? Hat sie sich selbst verletzt? Erfindet sie einen Mord, um ihre Schuld an einer Missbrauchsbeziehung zu verdrängen? Oder erfindet sie diese Beziehungen, um ihre Schuld am Mord zu verdrängen? Das Spiel ist ein Spiel mit der Fantasie des Spielers in einem vierdimensionalen Gefängnis aus Raum und Zeit, das nur im Kopf existiert. The Blind House dürfte zu den Favoriten des Wettbewerbs zählen.

Zuletzt geändert am 15.10.2010 20:32 Uhr.

The Blind House
Cover-Artwork
The Blind House
Glulx
The Blind House
Glulx