Der Angstbaum (03/2002)
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von Jens Bojaryn | |||
Publisher: | keine |
Der Spieler Genosch gehört zum Volk der Borinoi, sein ehemaliger Freund hat ihm seine Braut ausgespannt. Selbstverständlich will er sie wiedergewinnen, zumal ihm zuvor seine zweite Braut den Laufpass gegeben hatte. Die zauberhafte Geschichte ist sehr solide implementiert, enthält nur leichte Rätsel und ist daher besonders für IF-Einsteiger empfehlenswert. Das ultimative Ende offenbart die ganze Tragödie um diesen Angsbaum.
Das Spiel ging als überragender Sieger aus dem ersten deutschen IF-Grand Prix 2002 hervor.
Inhalt/Feelies: | Hintergrundinformationen zur Fantasywelt der Borinoi; Komplettlösung. |
Plattform: | T.A.G. |
Downloadlinks: | ✦ ↗ Online spielen ↗ Download T.A.G. |
Spoiler: | ↗ Walkthrough |
Weblinks: | ↗ Website ↗ Review von Jörg Rosenbauer 2007 ↗ Review von Matthias Oborski vom 21.10.2005 ↗ Review vom 20.02.2003 ↗ Review von Martin Oehm vom 05.05.2002 ↗ Baf's Guide (archive.org) ↗ IFDB |
» Genres » Fantasy
» Deutschsprachige Wettbewerbe und Projekte » Grand Prix » Textfire.de Grand Prix 2002
Review von proc 06.06.2013 ausblenden
Dieser Beitrag enthält Spoiler, die den Spielspaß verderben. Wer das Spiel noch nicht gespielt hat, sollte nicht weiterlesen.
»Deine Hand fährt kurz in deine Tasche und befühlt das Säckchen mit den vergifteten Brotkrumen. Branella wird dir gehören! Gorlongrimm muß büßen.« (Intro) - Die kurze und exzellent implementierte Fantasy-Geschichte aus der Welt der Borinoi lässt eingangs keine Zweifel am Quest und spielt fast ausschließlich im Haus des brautausspannenden Widersachers Gorlongrimm. Doch am Ende kommt alles ganz anders. Man schreitet als Genosch durch eine stimmungsvoll geschriebene Kurzgeschichte mit mehreren Ausgängen, die Wege hindurch bleiben immer sichtbar und verzweigen in einigen Entscheidungen zu einem verkürzten Ende. Am Anfang steht eine kleine Intrige, woran der Spieler gar nicht vorbeikommt und worin beiläufig sein verschlagener, aber sympathischer Charakter entwickelt wird. Erinnerungen und Gedanken deuten bei der Erkundung der Objektwelt einige Hintergründe über dieses abgekapselte und trinkfeste Borinoivolk und ihre Feinde an, die im Zusatzmaterial zum Spiel optional noch vertieft werden können. Bemerkenswert an der Geschichte sind deren Spannungsbögen, denn nach der Intro und nochmals im Finale überschlagen sich die Ereignisse. Als Zeuge eines Mordes wird der Spieler gejagt und in seltsame Ereignisse verstrickt, die in Flucht oder Tod enden. Oder eben in der mutigen Rückkehr ins Haus, um die Vorgänge detektivisch aufzuklären. Sie entladen sich in diesem Fall in einem magischen Gemetzel und lassen Genosch mit seiner kleinen Intrige alt aussehen. In Andeutungen und menügesteuerten Dialogen, die schon sehr genau gelesen werden müssen, erschließt sich nach und nach der mögliche Hintergrund. Das Spiel ist wegen der vielen Handlungsoptionen von Flucht über Kampf bis zur Rückkehr auf mehrfaches Spielen angelegt und führt am Ende zum Angstbaum, der eine ganze Familie auslöscht und als Mahnmal aus dem Dorf ragt. Wofür? Die am Ende in den Vordergrund rückende Hintergrundgeschichte bleibt letztlich offen und ist aus den vorangegangenen Andeutungen heraus zwischen böser Magie und Fluch eines vergangenen Verbrechens weithin interpretierbar. Der Angstbaum enthält keine schwierigen Rätsel und ist daher in der Grauzone zwischen parsergesteuerter IF und interaktiver Kurzgeschichte angesiedelt, aber vom Spielerlebnis her eben doch mehr im interaktiven Spiel verwurzelt. Eine etwas andere Geschichte, die so gut implementiert und erzählt ist, dass sie Einsteigern empfohlen werden kann. Inhaltlich zumindest einer Altersklasse, die von Wilhelm Busch keine Albträume bekommt.
Die goldene Ära
Der Angstbaum ging als überragender Gewinner des ersten großen deutschen IF-Wettbewerbs 2002 hervor, der aus einer interessanten Umgebung herauswuchs. In den Jahren bis zur Jahrtausendwende verkaufte Software 2000 als einer der letzten Computerspieleverlage überhaupt immer noch Weltenschmiede-Textadventures, die daher nicht frei verfügbar waren, während in den USA der Spielefirma-Hoax textfire.com am 1. April 1998 mit zwölf bizarren IF-Demos und fortgeschrittenem »XML-Autorensystem« Bestrebungen kommerzieller Neugründungen persiflierte. Tatsächlich entstanden daraufhin Diskussionen über Projekte zur Vermarktung von Textadventures, die in der am Ende erfolglosen Unternehmung »Cascade Mountain Publishing« des ehemaligen Infocom-Autors Michael Berlyn mündeten. In diesen Jahren formierte sich eine kleine deutschsprachige Community mit verschiedenen in einem Webring organisierte Websites für deutschsprachige Textadventures. In einem Forum regte der Weltenschmiede-Autor Harald Evers (1957-2006) im Herbst 2000 an, neue Textadventures zum Preis von etwa 20,- Mark herauszubringen, da er selbst gerade an der Textadventure-Edition seiner Höhlenwelt-Saga arbeitete. Die Anfrage führte dem Zeitgeist entsprechend zu teilweise heftigen Diskussionen über freie Software und letztlich über die freie Verfügbarkeit der Weltenschmiede-Titel, was schließlich in einem offenen Brief an den Publisher zur Freigabe der Weltenschmiede-Spiele und einer kleinen Demo vor dem Münchner Vertriebsbüro im November 2000 mündete und am Ende jegliche kommerziellen Ambitionen der deutschsprachigen »Independents« begrub.
Florian Edlbauer war dabei einer der schärfsten Wortführer, der den T.A.G.-Entwickler Martin Oehm und den Starrider-Autoren Max Kalus, beide intime Kenner von Z-Code und dem Inform-Autorensystem, für ein ambitioniertes Projekt gewinnen konnte. In Anspielung an den amerikanischen Hoax entstand mit ↗ textfire.de am 1. April 2001 ein e-Zine für deutschsprachige Textadventures, das bis heute zu den redaktionell profundesten IF-Werkstätten überhaupt gehören dürfte. Konzepte, Entwürfe, Reviews, von der »Straßenlage« deutschsprachiger Textabenteuer bis zum technischen und erzählerischen Innenleben solcher Stücke machen die redaktionellen Beiträge Textadventures bis heute schmackhaft und greifbar.
Textfire.de erschien nicht nur wegen der beteiligten Prominenz von Anfang an als Institution. Ein deutschsprachiger Wettbewerb nach Vorbild der IF-Comps lag seit längerem in der Luft, nun gab es eine Plattform dafür. Ende November 2001 kündigte Edlbauer die erste »textfire.de-Comp 2002« anlässlich des einjährigen Bestehens des Online-Magazins zum 1. April 2002 an und warf damit einen Brandbeschleuniger in die Szene, nachdem mit T.A.G. und mittlerweile drei Inform-Libraries zwei ausgereifte und mehrere andere Autorensysteme zur Verfügung standen und die QBasic-, Amiga- und Commodore 64-Spiele vorangegangener Jahre abzulösen begannen. In dieser Atmosphäre errichtete Matthias Oborsky im August 2002 das ↗ IF-Forum als zentrale Kommunikationsmöglichkeit, auf dem in den folgenden Monaten die deutschsprachige Besonderheit der »IF-Gurus« und die ersten Speed-IFs ausgemauschelt wurden. Beginnend mit dem Grand Prix vervielfachte sich seit 2002 die Zahl der jährlich veröffentlichten Spiele, bis es 2006 um die »Independents« wieder ruhig wurde. Erst 2010 kam wieder beachtliches Leben in die Szene und es ist kein Zufall, dass einmal mehr ein Textfire.de-Wettbewerb am Anfang stand.
Vor diesem Hintergrund ragt Der Angstbaum nicht nur als Mahnmal über das Borinoi-Dorf, um das dieses Völkchen einen großen Bogen macht. Die Borinoi könnten ihn ja einfach abfackeln, wäre einzuwenden, dann könnte er als Leuchtfeuer der Implementierungskunst und der erzählerischen Möglichkeiten seines Genres am Beginn glanzvoller Jahre der deutschsprachigen Textspiele funkeln. Aber das tut er auch so.
Hinweis:
Das Spiel kann auf modernen Windows-Systemen installationsfrei mit WinT.A.M. gespielt werden. Dieser und weitere Interpreter stehen auf der ↗ T.A.G-Downloadseite von Martin Oehm bereit. Für die ursprüngliche DOS-Version ist auf 64-Bit-Systemen ein Emulator wie ↗ DOSBox notwendig, ein Linux-Port ist ebenfalls verfügbar.
Zuletzt geändert am 06.06.2013 10:22 Uhr.