Ganz wie die Jugend selbst

> Review der Interactive Fiction-Dokumentation GET LAMP von Jason Scott

von Hannes Schüller

Eine Filmdokumentation über ein Textmedium – so umfassend die dieser Idee inhärente Ironie, so schön ist doch das Wissen, dass eines der schönsten Hobbies überhaupt so viel Wertschätzung und Anerkennung erfährt, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, mehrere Jahre lang zu recherchieren, zentrale Köpfe zu interviewen und entsprechend viel zu reisen und zu drehen sowie alles logisch zu strukturieren und zu schneiden. Dieser Jemand ist Jason Scott, der sich vorher bereits einem ähnlich unterdokumentierten Thema gewidmet hatte: den  Bulletin-Board-Systems, also den Anfängen des nicht-militärischen Internets.

Open box, get coin

 GET LAMP besteht neben einer schönen Hülle und einer nummerierten, zweifellos magischen  Münze, die man als nette Beigabe bezeichnen kann, aus gleich zwei DVDs. Kein Regionalcode-Blödsinn, keine CSS-Verschlüsselung verderben einem das Anschauen. Tatsächlich stehen alle Inhalte sogar unter einer  Creative-Commons-Lizenz, die eine Weiterverwendung nicht nur erlaubt, sondern sogar nahelegt. Einzig mit der NTSC-Kodierung muss sich der deutsche Fan abfinden. Und wie nicht anders zu erwarten war, gibt es nur englische Untertitel.

Die erste DVD enthält die Hauptinhalte: die eigentliche Dokumentation GET LAMP, eine eigene Dokumentation über Infocom sowie eine kurze Dokumentation über die Höhle, die in den siebziger Jahren das erste Adventure überhaupt inspiriert hatte: Will Crowthers und Don Woods‘  Colossal Cave Adventure. Hier zeigt sich schonmal eines: Jason Scott gehört nicht zu der Fraktion heutiger IF-ler, denen die Ursprünge des Genres mit all ihren Schwächen unangenehm oder sogar peinlich sind. Ebenso scheut er nicht davor zurück, die Höhen und Tiefen der Historie zu zeigen und zu diskutieren. Er übergeht diese Geschichte nicht, sondern nimmt sie mit einem gewissen Stolz als Teil dessen an, was heute immer noch existiert. Ironischerweise ganz im Gegensatz zu einigen der Menschen, die er für seine Dokumentation interviewt hat.

Die infocommerzielle Ära

Das zentrale GET LAMP teilt sich wiederum in mehrere Teile, thematisch geordnet. Zuerst geht es auch hier zurück in die Zeit, als Textadventures noch einen kommerziellen Markt hatten: Die Anfänge von  Scott Adams – der inzwischen seinen Afro abgelegt hat und dadurch deutlich besser aussieht als in den 70ern und 80ern – mit Adventure International sowie natürlich das, so legt uns die Dokumentation nahe, alles überstrahlende Infocom. Sowohl Adams als auch diverse ehemalige Mitarbeiter Infocoms von Dave Lebling bis Amy Briggs kommen zu Wort und geben einen Einblick, wie es damals zuging in ihren Büros und auf dem Markt. Besonders gelungen hier, wie Jason Scott jeweils die Interviewpartner einführt: Bevor sie sich jeweils zu ihren eigenen Werken äußern, sind sie mindestens einmal mit einer Aussage über ihre jeweiligen eigenen »Vorgänger« zu sehen. Das heißt, sie werden selbst als Fans identifiziert, die dann ihre Passion zu ihrem Beruf gemacht haben.

Trotz aller Begeisterung über die große Anzahl bekannter Gesichter oder zumindest Namen – die meisten Akteure bekam man ja damals nicht zu sehen – vermisst man hier doch Einiges. Obwohl es ja wie bereits erwähnt sogar noch eine eigene Dokumentation ausschließlich über Infocom gibt, ist auch im historischen Teil von GET LAMP dies das Thema, das den Großteil der Zeit und Aufmerksamkeit verschlingt. Die Zeit vor Infocom wird sehr kurz abgehandelt; selbst Firmen, die seit Mitte der 80er Jahre Spiele auf ähnlichem Niveau produzierten – man denke nur an Magnetic Scrolls oder Level 9 – werden mit keinem Wort gewürdigt. Bob Bates taucht auf, darf aber ebenfalls nur über sein Engagement kurz vor Infocoms Untergang Stellung nehmen – seine eigene Firma Legend Entertainment wird nicht erwähnt. Geschweige denn irgendwelche der tausenden Spiele dutzender weiterer Firmen, die vielleicht technisch und erzählerisch nicht ganz so anspruchsvoll – wir erinnern uns an zahllose Beispiele, die sich einfacher Verb-Nomen-Parser bedienten – aber dennoch unbestreitbar Teil eines damals florierenden Marktes waren, und vor denen wir alle ja auch ehrlich gesagt Stunden um Stunden gesessen haben.

Ein Fest für den inneren Fan

Dieser historische Abriss endet mit einem bewegenden Kommentar Steve Meretzkys, wie die Infocom-Mitarbeiter damals gedacht hätten: »Wir dachten, es würde für immer so bleiben, es würde immer so weitergehen – ganz wie die Jugend selbst«. Hier merkt man an seinem Tonfall, dass all dies für die Beteiligten immer noch recht frisch ist. Tatsächlich ist das Ende Infocoms ja auch erst 20 Jahre her, was in Bezug auf Computerspiele zwar relativ viel, im Bezug auf die Entwicklung eines Menschenlebens jedoch eher wenig ist.

Daraufhin hat der Zuschauer die Möglichkeit, weitere Themengebiete anzuwählen. Im ersten geht es einfach darum, wie verschiedene Menschen die Spiele erleben. Hier kommen wiederum alte Veteranen der kommerziellen Ära, aber auch Fans und Autoren, die heutzutage überwiegend in der US-amerikanischen Szene aktiv sind, zu Wort. Dies ist erstmal ein wahres Fest für den inneren Fan im Zuschauer, da hier Menschen auf dem Bildschirm mit geradezu leuchtenden Augen davon erzählen dürfen, wie faszinierend dieses Genre doch ist und was es für sie bedeutet. Etwas weniger enthusiastisch wird es, als die unvermeidlichen Labyrinte zur Sprache kommen, die bei den Beteiligten auf wenig Gegenliebe stoßen. Hier wird aber wiederum klar, dass Scott solche Auswüchse früherer Zeiten nicht verurteilt: Er wählt die Aussagen, die er den Zuschauern präsentiert, so, dass es klar wird, wie sich die Erwartungen der Spieler hier einfach geändert haben; dass es früher einfach für normal gehalten wurde, eine Karte auf Papier zu zeichnen, was sogar Teil des Spaßes war.

Parser und Rätsel

Weiter geht es mit einer Betrachtung dessen, welche Probleme ein Textinterface mit sich bringt: die vorgegaukelte endlose Freiheit des Spielers. Ein typisches Thema, das in der aktuellen Szene auch wieder und wieder diskutiert wird. Leider immer einseitig und ebenso in GET LAMP. Was unerwähnt bleibt: Dies ist heutzutage trotz aller berechtigter Erwartungen an die Autoren, die Entwicklungssysteme, an die Engines und User Interfaces auch ein Problem der Spieler. Diese sind üblicherweise einfach nicht mehr an Eingabeaufforderungen gewöhnt; sie missverstehen diese, denken, dass diese tatsächlich »alles« verstehen sollten. Das Wissen, wie das Parsen von Kommandozeilen prinzipiell funktioniert, ist leider verlorengegangen – in den 80er Jahren war das noch ein völlig normales Verständnis unter Computerbenutzern.

Positiv herausstechend, da völlig unerwartet (mea culpa), ist ein Abschnitt über blinde Spieler. Interessant, aber relativ oberflächlich folgen darauf ein kurzer Einstieg in die Thematik, wie IF auch als Medium in Schulen und an Universitäten eingesetzt werden kann, sowie die bislang noch nicht sonderlich zahlreichen Versuche, sich dem Medium wissenschaftlich anzunähern.

Ein anderes Themengebiet ist der zentrale Bestandteil des klassischen Genres: die Rätsel. Etwas unangenehm fällt in diesem Teil auf, dass einige Vertreter der »modernen« Szene sich sehr generell und sehr negativ über Rätsel im Allgemeinen äußern, also über deren Existenz. Dies ist jedoch, das muss man eingestehen, eine korrekte Abbildung tatsächlich existenter Strömungen – nur wird es nicht ganz klar, wenn man es im Rahmen von GET LAMP ohne weiteren Kontext hört, wie uniform (oder eben nicht) diese Meinung ist. Vielleicht wird hier einfach zu viel Vorwissen über diese endlose Diskussion vorausgesetzt. Endlos ist die Diskussion, da es letztlich eine Geschmacks-frage ist.

Die heutige IF-Szene

Der gleiche Effekt plagt dann insbesondere den Abschnitt über die aktuelle IF-Szene: Hier werden viele Aspekte angesprochen, die für sich jeweils interessant sind, jedoch für Menschen, die sich nicht selbst ohnehin in jenen Kreisen bewegen, so wahrscheinlich unverständlich bleiben. Da wird über Fluch und Segen der  IF-Competition philosophiert, über deren Einfluss auf Spielinhalte, übliche Länge und Schwierigkeit, was für den informierten Insider interessant sein mag, aber für Neulinge kaum nachvollziehbar ist. Es fallen Titel von Spielen der letzten 15 Jahre, allerdings nur in dem Sinne, dass auf sie Bezug genommen wird, um etwas Allgemeines zu veranschaulichen – was nichts nützt, wenn einem diese Titel nichts sagen.

Ebenso wird hier auch das Auftauchen vieler Personen an sich schon problematisch, da ihre Funktionen selten erklärt werden. Und wer, außer wirklich sehr gut informierten Fans, weiß schon, wer Stephen Granade oder Howard Sherman sind? Jetzt könnte man mit gewissem Recht sagen: Wer sie sind, ist auch nicht so wichtig, denn schließlich wollen wir ja auch keine Biografie dieser Leute sehen. Was sie sagen, definiert ihre Funktion. Doch GET LAMP zeigt nicht etwa die Interviews in ihrer Gänze, sondern stückelt einzelne Aussagen immer wieder unterschiedlicher Menschen thematisch sortiert aneinander. Das in einem Tempo, das es einem manchmal schwer macht, den Überblick über die vielen Gesichter zu behalten und ein abgerundetes Bild von den Individuen zu gewinnen. Was soll man beispielsweise davon halten, wenn sich Menschen über die theoretischen Möglichkeiten auslassen, IF wieder kommerziell zu vermarkten, wenn man gar nicht weiß, was deren jeweiligen Versuche beinhalten? Hier wird die eigentlich sehr gut funktionierende Art der Präsentation zum Fluch, die auf schnellen und häufigen Schnitten basiert, um so angesichts statischer, permanent redender Köpfe Langeweile zu vermeiden.

Outtake-Schätze

Die zweite DVD besteht aus »Outtakes«, jedoch nicht im Sinne von »schiefgegangenen Aufnahmen« wie hinfallenden oder sich versprechenden Menschen, sondern weiteren interessanten Aussagen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in den Zusammenhang der Hauptdokumentation passten. Hier finden sich tatsächlich einige Schätze. Dies alles zu besprechen führt zu weit.

Deshalb nur zwei ganz persönliche Lieblingsstellen: Marc Blank macht sich über diejenigen modernen »Kritiker« lustig, die Zork dafür verurteilen, keine konsistente Symbolik in seiner wenig ausgefeilten Geschichte zu haben. Dies sei schlicht und einfach eine falsche Erwartung, denn es sei immer nur als Spiel gemeint gewesen, nicht als literarisches Meisterwerk (und das sei auch überhaupt nicht nötig). Da schlägt das Herz des Liebhabers klassischer, heutzutage schon fast verpönter »Puzzlefeste« höher und das sollten sich einige der Leute, die heute das Genre doch vielleicht etwas zu ernst nehmen, mal hinter die Ohren schreiben! Absolut köstlich auch die Sammlung von Beispielen, die laut DVD-Menü »jedes Spiel spoilern, das jemals gemacht wurde«: Unterschiedliche Leute nennen Beispiele für völlig absurde Rätsel, allerdings so zusammengeschnitten, dass man manchmal denken könnte, dass diese Beispiele tatsächlich alle zusammengehören: »Acquire the means to knock out the priest, you steal the crown, you get into your time travel machine, but then you‘ve got this chocolate arm! And what you have to do is you have to put a timber across the mouth of the slide and tie a rope to it.« Na, Lust bekommen auf dieses imaginäre Spiel?

Etwas unglücklich sind hier die gesammelten Aussagen einiger moderner Autoren darüber, wie zeitaufwändig das Schreiben von IF sei. Sie stellen es fast so dar, als wäre es praktisch unmöglich, jemals ein Spiel fertigzustellen. Das hat nicht nur eine gewisse Selbstgerechtigkeit, denn wenn Spieleautoren so etwas sagen, dann stellen sie es implizit so dar, als hätten sie selbst »Unmögliches« geschafft, sondern ist auch für potentiell neue Autoren sehr entmutigend. Da hätte man vielleicht seine Wortwahl etwas überdenken sollen. Das Gleiche gilt für einige Aussagen bezüglich Spielinhalten und Geschichten, die man »nicht mehr sehen wolle«. Zum Glück scheint dieser Eindruck nicht alle Menschen abgeschreckt zu haben: In der diesjährigen IF-Competition gibt immerhin  einer der Autoren ganz konkret GET LAMP als Inspiration dafür an, sein Spiel zu schreiben.

Eine Dokumentation, die das schafft, kann eigentlich schonmal nicht schlecht sein. Und Vieles ist auch einfach sehr gut gelungen; insbesondere die hervorragende Balance zwischen historischen, modernen und ganz allgemeinen Überlegungen zum Thema. Auch wenn man als Fan GET LAMP sicherlich verschlingen wird, stellt sich im Rückblick mit ein paar Tagen Abstand dann doch eine gewisse Ernüchterung ein.

Woran liegt das? Letztlich scheint die Zielgruppe nicht ganz definiert zu sein. Für wirkliche Insider gibt es nicht allzu viel Neues. Scott beschränkt sich auf die Nacherzählung bekannter Tatsachen in anderer medialer Form als sonst üblich. Natürlich ist es schön, all die alten Infocom-Veteranen zu sehen und auch mit einigen der aktuell aktiven Leute endlich mal Gesichter und Stimmen verbinden zu können, aber für diese Art Zuschauer ist GET LAMP letztlich dann doch nur eine Selbstbestätigung. Für nicht entsprechend Vorgebildete werden insbesondere die Teile über IF-Theorie und die moderne Szene aus den genannten Gründen wenig nützen.

Der konsistenteste Teil des Gesamtpakets, den man uneingeschränkt empfehlen kann, ist die separate Infocom-Dokumentation. Hier zeigt sich, dass Jason Scott absolut fähig ist, wenn es darum geht, Geschichten nachvollziehbar und unterhaltsam für alle denkbaren Zuschauer zu erzählen. Vielleicht wurden die Themenblöcke in der Hauptdokumentation einfach zu zahlreich und zu komplex, die Gedankenströme und Meinungen zu heterogen. In der anderen Richtung wären für Fans sicherlich einfach die uneditierten, kompletten Interviews von Interesse gewesen. Dies wird einem auf der zweiten DVD klar, die fast mehr spannende Details enthält als die erste.

Fazit

Trotz aller Kritik im Detail: Was Jason Scott da auf die Beine gestellt hat, ist schon beeindruckend! Egal was man ansonsten über die Einzelheiten denkt, mindestens muss man Eines eingestehen: GET LAMP ist ideal, um es Bekannten oder Verwandten zu zeigen, die immer eher ein ironisches Grinsen auf den Lippen haben, wenn man als Fan mal wieder ins Schwärmen gerät. Denn schließlich muss nach einem insbesondere in den Prä-Internet-Generationen verbreiteten Vorurteil alles, was einer Filmdokumentation würdig ist, ein ernstzunehmendes Thema sein, mit dem es sich zu beschäftigen absolut wert ist!

Erschienen in The Parser Jg. 1 (2010), N° 2, November 2010, S. 11-13.