Editorial
Steht interaktive Literatur am Beginn einer neuen Ära? Kann sie heute im anbrechenden Zeitalter des digitalen Lesens mit seinen iPads, E-Books und Smartphones ein neues Publikum finden? Beinahe 35 Jahre ist es her, seit William Crowther und Don Woods mit dem Spiel Adventure eine neue Gattung aus der Taufe hoben: das Textadventure. Schon bald etablierte sich »Interactive Fiction« (kurz: »IF«) als eine weitere Bezeichnung für das junge Genre. Tatsächlich konnten sich schon einige der frühesten Spiele mit Recht als »fiction«, als Werke der fiktiven Literatur bezeichnen. Doch die Zeit der kommerziellen Produktionen von Firmen wie Infocom, Level 9 und Magnetic Scrolls (siehe Review S. 18) endete um 1990, als die technikaffine Erstgeneration der Computernutzer nicht länger beeindruckt war von Spielen, die – wenn überhaupt – von Grafik und Sound nur sparsam Gebrauch machten. Dennoch organisierte sich in den 1990er Jahren vor allem im englischen Sprachraum eine lebendige Hobbyszene. Vernetzt durch das junge World Wide Web brachte sie komplexe Autorensysteme mit über den ganzen Erdball verstreuten Entwicklern und Autoren hervor. Es entstanden Wettbewerbe und E-Zines – und vor allem: wunderbare Spiele. Seit einiger Zeit ist eine Aufbruchstimmung zu spüren, die auch die deutsche »Szene« aus einem seit 2006 andauernden Dornröschenschlaf reißt. Die Spracherweiterung »GerX« für das mächtige Autorensystem Inform 7 ist dem englischsprachigen System inzwischen ebenbürtig, das Autorensystem »Floyd« ist wieder auferstanden (siehe Review S. 17), die ifwizz Interactive Fiction-Datenbank wächst und im April 2010 fand erstmals seit vier Jahren wieder der Interactive Fiction-Grand Prix statt. Zudem findet das geschriebene Wort heute immer öfter digital statt gedruckt zum Leser und der Trend geht dahin, Spiele online und damit auch mobilen Geräten anzubieten. Beide Entwicklungen eröffnen der Interactive Fiction neue Chancen: Im heutigen Leser könnte sie das wiederfinden, was ihr am Ende ihrer »goldenen Ära« um 1990 abhanden kam: ein großes Publikum.
The Parser möchte diese spannenden Entwicklungen mit Nachrichten, Beiträgen, Tipps und Reviews vorstellen, Neugier wecken und zum Mitmachen anregen. Die erste Ausgabe steht ganz im Zeichen des Autorensystems Inform 7 und der deutschen Spracherweiterung GerX (S. 5). Interviews mit Christian Blümke (S. 10) und Grand Prix-Gewinner Michael Baltes (S. 14) geben Einblicke in die Möglichkeiten eines Systems, von dem die Spieleentwickler in den 1980er Jahren nur träumen konnten. The Parser entsteht für alle an Interactive Fiction Interessierten und lebt wiederum von ihnen. Wir freuen uns über Zuschriften, Reviews und Beiträge und wünschen viel Spaß mit dieser Erstausgabe!
Das ifwizz-Team
Ingo Scharmann & Martin Barth
Erschienen in The Parser 1 (2010), N° 1, August 2010, S. 2.
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Journal für Interactive Fiction