Gut gelandet

> Michael Baltes im Interview

Mit dem Science Fiction-Abenteuer Ares (sprich: Áris) gewann der im bayerischen Cham lebende Michael Baltes (37) den deutschsprachigen Interactive Fiction Grand Prix 2010. Bis dahin unbekannt, ist er heute ein aktives Mitglied der deutschsprachigen Interactive Fiction-Szene und neben Christian Blümke die zweite Person im GerX-Team. Wir befragen Michael zu Ares, zu seiner Mitarbeit an GerX und zu einem möglichen Ares-Nachfolger.

Michael, wir gratulieren dir nochmals zu deinem ersten Platz auf dem diesjährigen Grand Prix mit einem Beitrag, der die zweitbeste Bewertung eines Spiels überhaupt erhalten hat. Wie bist du dazu gekommen, ein Interactive Fiction-Spiel zu schreiben?

Vielen Dank! Ich hatte offensichtlich sehr viel Glück. Mit Interactive Fiction beschäftige ich mich seit meiner Jugend. Als die kommerzielle Ära Anfang der 1990er zu Ende ging, habe ich das Thema durch mein Studium und die relativ stressigen Berufsanfangsjahre etwas aus den Augen verloren. Nach der Jahrhundertwende wurde ich dann zufällig auf die englische Hobbyszene aufmerksam. Ich fand es sehr spannend, was sich da alles in den Jahren getan hat.
Ein Spiel selbst zu schreiben, das war schon lange in meinem Kopf, aber letztlich haben dann Sprachbarrieren dazu geführt, dass ich es immer wieder hinausgeschoben habe. Englisch schreiben ist doch ganz was anderes als Englisch lesen.

Ares war dein Debüt als Interactive Fiction-Autor. Hast du zuvor bereits an anderen Spielen gearbeitet, die nicht abgeschlossen und veröffentlicht wurden?

Ja, klar. Ich habe hier und da was probiert, aber es sind nur Fragmente dabei herausgekommen, nichts was einer Erwähnung wert wäre. Einmal habe ich ein Spiel als Geburtstagsgeschenk für eine Bekannte geschrieben. Es war ungetestet, erbärmlich implementiert und ich fürchte, nachdem sie gemerkt hat, dass da ihr eigenes Leben parodiert wird, hat sie es wieder von der Festplatte gelöscht.

Wie entstand die Idee zu Ares und gab es Werke wie Filme oder Bücher, die dich in besonderer Weise inspiriert haben?

Die Idee zu Ares kam ganz spontan. Nachdem mir die Ankündigung zum Grand Prix entgangen war, blieben plötzlich nur sechs Wochen Entwicklungszeit übrig. Ich wollte aber unbedingt einen Beitrag schreiben. Über eine SciFi-Story um den Mars dachte ich schon länger nach. Darauf folgte eine stressige Zeit mit sehr wenig Schlaf – jede freie Minute war mit texten, Code schreiben und testen verplant.
Eigentlich ging es mir um eine moralische Grundfrage: Der Spieler entdeckt ein Artefakt, das ultimative Macht verleiht. Strebt er nach Ruhm und lässt sich als großer Entdecker feiern? Oder durchschaut er den wahren Grund der Mission und erkennt die Gefahr, wenn er dieses Artefakt auf die Erde bringt? Vielleicht haben sich Robert Oppenheimer und Edward Teller bei der Entwicklung der Kernwaffe eine ähnliche Frage gestellt, vielleicht auch nicht. Das ist natürlich sehr weit gegriffen.
Assoziationen ergeben sich zwangsläufig, sind aber nicht immer beabsichtigt. Luigi Snozzi, ein berühmter Architekt aus dem Tessin, hat mal gesagt: »Es gibt nichts Neues zu erfinden, es gilt nur, das Alte wieder zu finden«. Das trifft auch auf Ares zu. Einige sehen darin Indiana Jones: der Stein soll möglichst gut vor Zugriff durch Grabräuber geschützt werden, daher die Fallen. Oder den Herr der Ringe: nachdem es auf dem Mars so gut wie keine »Landmarks« gibt, hat sich der flache Vulkan Alba Patera als Landepunkt angeboten.
Was wohl zutrifft: Ares kann sich dem Nimbus des Pulp Fiction nicht vollständig entziehen. Will es auch gar nicht.

Ares enthält mit dem Sicherheitsgewebe im Shuttle eine Hommage an Steve Meretzkys Planetfall (1983). Was gefällt dir an Infocom-Spielen besonders?

Zunächst haben sie mir gar nicht so gut gefallen. Ich habe die Schwächen meines Schul-Englisch deutlich zu spüren bekommen. Aber irgendwie habe ich mich da durchgebissen und die vielen unbekannten Wörter mühsam nachgeschlagen. Mit der Zeit wurde mein Wortschatz dann etwas besser und ich konnte mich mehr auf die Geschichten selbst konzentrieren. Die Mühe hat sich gelohnt.
Infocom hat Grandioses geschaffen: komplexe Spiele mit oft über 50 Locations, und das trotz der starken Speicherbeschränkung. Das ist eine großartige Leistung und ich schaue auch immer wieder gerne auf die »alten« IF-Titel zurück. Mir gefällt die Leichtigkeit und der Spielwitz. Natürlich gehört da auch eine Portion Nostalgie dazu.
In meiner Sammlung befinden sich einige Klassiker von Infocom und Magnetic Scrolls, viele noch in der Atari ST-Version, manche schon als PC-Version. Bis heute habe ich kein Adventure gefunden, das ähnlich stimmungsvolle Grafiken wie The Guild of Thieves oder Corruption enthält. Auf modernen Monitoren wirkt es natürlich lächerlich. Aber auf diesen alten RGB Monitoren – da waren die Pixel, durch dünne schwarze Linien getrennt, einzeln erkennbar – traumhaft!

Seit Ende des Wettbewerbs hast du dein Spiel überarbeitet und neue Versionen testen lassen. Wie ist der aktuelle Stand? Ist Ares nun endgültig abgeschlossen?

Ares ist jetzt fast so wie ich es immer haben wollte. Viele Dinge wurden mir erst nach den Rezensionen zum Grand Prix klar. Die finale Testphase läuft demnächst an.
Das Release 2 wird einsteigerfreundlicher und enthält die Keyword Interface-Erweiterung von Aaron Reed. Außerdem erlebt der Spieler in »Flashbacks« Teile der »Alten Kultur«, so schließen sich die Lücken in der Hintergrundgeschichte, die in der Grand Prix-Edition zwangsläufig aufgrund der Spielzeitbeschränkung enthalten waren. Auch die eine oder andere Grafik wird enthalten sein. Aber ich will nicht zu viel verraten. Der Quellcode hat sich von 35.000 auf 50.000 Wörter erhöht und der Umfang des reinen Textfiles beträgt jetzt gut 1 Megabyte. Ein zweiter Blick auf Ares lohnt sich auf jeden Fall.

Dürfen wir in Zukunft weitere Spiele von dir erwarten?

Ja, ich habe so einiges im Kopf. Ich hoffe natürlich, dass es 2011 wieder einen Grand Prix geben wird. Da werde ich sicher mitmachen. Daneben habe ich noch ein englisches Spiel begonnen. Das Setting ist im alten Japan angesiedelt, eine sehr umfangreiche Geschichte, die jetzt wegen Ares erstmal auf Eis gelegt ist. Aber ich habe die Hoffnung, dass ich irgendwann einmal die Zeit finde sie zu vollenden.

Seit einiger Zeit arbeitest du gemeinsam mit Christian Blümke an GerX. Wie kam es zu deiner Mitarbeit an der Extension?

Das hat sich fast zwangsläufig so ergeben. Während der Arbeit an Ares ist mir insbesondere in der Schlussphase die eine oder andere Ungereimtheit aufgefallen. Zum Glück war Christian immer ansprechbar und hat unglaublich schnell reagiert und die Bugs gefixt. Das hat richtig Spaß gemacht. Wir haben gemerkt, dass wir gut miteinander klar kommen. Nach dem Grand Prix hat mich Christian gefragt, ob ich ihm helfen möchte, nachdem er nach dem Aussteigen von Banbury bis dato alleiniger Maintainer der Extension war, und ich habe zugestimmt.

GerX ist ein komplexes Gemisch aus überschriebenen Inform 6-Libraries und natürlichsprachlichem Inform 7-Code. Ist es da nicht schwierig, den Überblick zu behalten?

Ja, das ist ein großes Problem. I7 arbeitet mit Templates, die in I6-Code geschrieben sind. So ist die Übersetzung ein Spagat in zwei verschiedenen Sprachen. Ich habe früher ein wenig in I6 probiert und habe auch Teile des »Inform Designer's Manual« von Graham Nelson durchgearbeitet, aber Christian steckt da natürlich wesentlich besser drin, er ist ja von Beginn an dabei gewesen.
Irgendwann wird Inform komplett in I7 geschrieben sein. Bis dahin müssen wir uns mit »Workarounds« behelfen. Diese funktionieren aber erstaunlich gut.

Teilt ihr euch die Entwicklungsaufgaben auf?

Der Einstieg war gar nicht so einfach. Ich habe mir zuerst den Quelltext ausgedruckt und in Kapitel gegliedert. In einer 11-Punkt-Schrift sind das immerhin 200 Seiten. Das habe ich dann durchgearbeitet. Trotzdem gibt es für mich immer noch Sachen, die ich nicht auf Anhieb verstehe und die neu für mich sind, ich bin schließlich kein berufsmäßiger Programmierer.
Es hat sich bewährt, dass ich teste und herum probiere und Christian den Code schreibt. Wenn zwei Leute gleichzeitig am Code schreiben würden, käme es sicherlich zu Problemen. Vielleicht tauschen wir ja die Rollen beim nächsten Release. Außerdem habe ich das brandneue Logo von GerX entwickelt. Ich hoffe, es kommt gut an.

Wünscht ihr euch weitere Mitentwickler und Tester für GerX?

Klar. Am besten ist es, wenn viele Spiele mit I7 geschrieben werden. Während des Entwickelns eines Spiels in seiner gesamten Komplexität fällt einem wesentlich mehr auf als bei allen Testläufen. Bei Problemen helfen wir immer gerne weiter.

Hast du schon einmal Martin Oehms T.A.G. oder andere Autorensystem-Standards wie TADS, Alan, Hugo & Co. ausprobiert?

Ja, interessehalber habe ich einiges versucht bis ich schließlich bei Inform 7 gelandet bin. T.A.G. finde ich prinzipiell gut, aber das Problem ist, dass lange Spiele sehr schnell unübersichtlich werden, dass Interpreter nur für wenige Plattformen verfügbar sind und dass das System etwas veraltet wirkt. Aber es ist ein solides Grundgerüst mit einem guten Standard-Parser. Auch TADS habe ich mir intensiv angeschaut, es bietet im Vergleich zu I7 mehr Feinheiten, die systemseitig implementiert sind. Dafür ist das Erlernen schon sehr schwierig, da wie in einer großen unübersichtlichen Maschine viele kleine Stellrädchen einjustiert werden müssen, um das korrekte Ergebnis zu erhalten. Zudem gilt TADS wegen des großen Umfangs der Standard-Bibliothek als unübersetzbar.
Alan, Hugo und Adrift kenne ich nur vom Hörensagen und von einigen wenigen IF-Titeln, die ich im Lauf der Jahre mal gespielt habe.
I7 ist logisch, gut strukturierbar, übersichtlich und hat einen weiteren Vorteil: der Quellcode ist sehr einfach zu lesen. Wenn man sich nach einer langen Pause dazu entschließt, wieder an dem Projekt zu arbeiten, dann fällt der Wiedereinstieg sehr leicht. Es ist übrigens ein Vorurteil, dass I7 nur was für Programmier-Noobs ist. I7 ist komplexer als es zunächst den Anschein hat. Ich kenne einen berufsmäßigen Programmierer, der von I7 begeistert ist und auch schon ein englisches Spiel geschrieben hat.

Gibt es IF-Autoren, deren Arbeiten dich besonders beeindruckt haben?

Ja, natürlich, viele. Ich bewundere Andrew Plotkin für seine herrlich verrückten Ideen, Aaron Reed für seine unglaubliche Ausdauer, Emily Short für ihr hervorragendes Gespür für Charaktere und Michael S. Gentry für das herausragende Setting in Anchorhead. Auch unbekanntere Autoren haben die eine oder andere Perle zur IF-Historie beigesteuert. Ich denke da zum Beispiel an Nate Culls Glowgrass oder an Suzanne Brittons World Apart oder an Nolan Bonvouloirs Primrose Path.

Hast du die Entwicklungen in der deutschsprachigen IF-Szene auch vor dem Grand Prix schon verfolgt?

Ja, in der Tat. Wobei ich eher durch Zufall darauf gestoßen bin. Der erste deutsche IF-Titel, den ich gespielt habe, war Starrider von Maximilian Kalus. Die dichte Atmosphäre hat mir sehr gut gefallen und Starrider hat mein Interesse an deutschsprachiger IF geweckt.

Was denkst du, wie es um die Zukunft der deutschen IF-Szene bestellt ist?

Mein persönliches Fazit aus dem Grand Prix: es muss mehr geschrieben werden. Deutsche IF steht im Augenblick da, wo englische vor zehn Jahren war. Das ist keine Kritik, sondern eine sachliche Feststellung – mit zunehmender Erfahrung der Autoren wird sich das im Laufe der Zeit auch ändern. Ich denke, wir sind auf einem gutem Weg, es gibt leistungsfähige Autorensysteme und die Probleme sind, ob Deutsch oder Englisch, immer dieselben.
Jetzt gilt es, diese Möglichkeiten auszuschöpfen und neue Spiele zu schreiben. Daneben sind natürlich auch die Betatester gefordert. Ohne Tester, die bereit sind, sich einzubringen und vor allem auch kurzfristig mal einzuspringen, stehen die Autoren auf verlorenem Posten. Dabei muss das Testen nicht zwangsläufig viel Zeit beanspruchen. In allen modernen Interpretern ist eine automatische Skript-Funktion enthalten. Das Auswerten der Skripts übernimmt dann der Autor. Das geht schnell und unkompliziert.
Insgesamt, denke ich, hat IF großes Potential. Man muss nur einmalig den Zugang dazu finden, das ist fast immer das Problem. Hier sind wir alle gefragt, um Einsteigern den Anfang zu erleichtern – sei es mithilfe von entsprechenden Webseiten oder mit einem im Spiel eingebauten »Tutorial Mode« oder mit Referenzkarten. Wenn ein Anfänger nach zehn getippten Befehlen keine vernünftige Antwort bekommt, klickt er frustriert auf den Close-Button. Das ist heute so. Nicht umsonst haben alle modernen Spiele ein Tutorial, in dem Schritt für Schritt die Spielmechanik erklärt wird. Das fehlt uns bislang.

Meinst du, es gibt Möglichkeiten, mehr Menschen für Interactive Fiction zu begeistern?

Ja, da sind wir alle gefragt – wir müssen mehr an die Öffentlichkeit gehen: Mehr aktuelle und übersichtliche Internetseiten, mehr Rezensionen, mehr Aktivität in den Foren. Was ich mir wünschen würde: ein ähnliches System wie ClubFloyd. Man trifft sich zum Beispiel einmal alle zwei Wochen online und spielt ein festgelegtes IF-Werk. Das garantiert Einsteigern einen schnellen Zugang, da ja alle gleichzeitig tippen, rätseln und kommentieren – Spielspaß pur.
Die Pax East in Boston hat gezeigt, dass reges Interesse vorhanden ist, wenn man es der Öffentlichkeit entsprechend präsentiert. Jason Scott wird demnächst einen wichtigen Beitrag zur Publikation von IF mit seinem Dokumentarfilm leisten. Die Online-Spielmöglichkeiten mit Parchment, Quixe und Zmpp sind ein weiterer wichtiger Schritt nach vorn. Elektronische Literatur ist ein Thema, über das man durchaus spricht. Das iPad ist als »mobiles Buch« konstruiert. Es wird sich in den nächsten Jahren einiges tun, da bin ich mir sicher.
Solange die Leute nicht aussterben, die gerne abends mal ein Buch lesen und nicht immer nur auf Filme fixiert sind, glaube ich an die Zukunft von IF.

Spielst du außer Interactive Fiction auch andere Computerspiele?

Ja, hin und wieder probiere ich was aus. Das letzte, das ich gespielt habe, war Fallout 3. Dabei hat mich die unglaubliche Freiheit in der Entwicklung des Spielercharakters fasziniert.

Hast du außer Interactive Fiction noch andere Interessen?

Ich zeichne und fotografiere gerne und mag ein paar Sachen, die nicht dem Mainstream entsprechen. Neben meiner Beschäftigung mit IF übe ich Iaido, japanische Schwertkunst, in einem Dojo in Regensburg.

Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, unsere Fragen zu beantworten.

Erschienen in The Parser 1 (2010), N° 1, August 2010, S. 14-16.

The Parser N° 1

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Ares

Illustration aus dem SpielIllustration zu Ares